Gelebte Demokratie
bei uns

Was hat die Werkstattkirche mit Demokratie zu tun?

Auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Frage. Die Werkstattkirche ist ja keine politische Einrichtung. Im Oktober 2019 stellten wir den Menschen an unserem wöchentlichen Mittagstisch genau diese Frage. 

„Hier kann man offen seine Meinung äußern und Meinungen anderer kennenlernen“.
„Hier sind Leute zusammen gekommen, die für ihre gemeinsamen Interessen gekämpft haben. Das ist für mich gelebte Demokratie“.
„Jeder ist geprägt von seinen eigenen Problemen und Erfahrungen, aber man kann doch etwas Gemeinsames machen“.
„Jeder darf kommen und jeder ist gleich wert“.
„Die Werkstattkirche ist die einzige Organisation, die nicht wartet, bis jemand mit seinen Problemen selbst kommt, sondern selbst fragt und zu den Menschen geht“.
„Solidarität ist für mich auch ein Ausdruck von Demokratie“.
„Minderheiten, die alleine nicht zu ihrem Recht kommen, bekommen Raum und Unterstützung und bekommen so mehr Selbstbewusstsein“.
„Hier kann man wieder lernen, etwas wert zu sein“.

Es geht in der Werkstattkirche um Menschlichkeit und dabei auch um das Zusammenleben von Menschen.

Hände der Mitmachmenschen

Demokratie als Organisationsform für das Zusammenleben von Menschen ist nicht einfach ein formales System, eine formale Struktur von Gesetzen und Bestimmungen. 

Demokratie muss gelebt werden, Demokratie muss im Leben der Menschen verankert sein. Demokratie braucht Grundlagen, die nicht durch Gesetze und Verordnungen herzustellen sind:

Das am häufigsten genannte und drückendste Problem von Menschen in der Nordstadt ist die Einsamkeit, das Gefühl allein gelassen zu sein.

Eine Frau, die schon lange in der Nordstadt wohnt, beschreibt das für sich und andere so:

„In meiner Wohnung ist kein Leben, dann gibt es schwarze Löcher …. Wir sind empfindliche Menschen, die im Leben mehr einstecken mussten, als sie Taschen haben, oft ein langes Tränental. Wir brauchen viel Zeit, Geduld, Ausdauer und Zuverlässigkeit. In unserem Stadtteil leben viele Bewohner, die durch Behörden, Institutionen, Politik das Gefühl bekommen haben „ überflüssig“ zu sein, Vertrauen ging verloren, sie haben sich aus Gemeinschaften zurückgezogen“.

„Vertrauen ging verloren“, schreibt die Bewohnerin. Deswegen ist Vertrauen eine ganz wichtige, eigentlich die Grundlage unserer Arbeit, aber auch demokratischen Lebens.

„Hier bekommt jeder Vertrauen und Wertschätzung, und sei es nur ein Lächeln, ein Nicken, ein Grinsen, hier ist eine so unterschiedliche Mischung und jeder wird ernst genommen…“

Wir fragen niemanden, was er oder sie vorher so alles gemacht hat, was schief gelaufen ist oder auch verbockt wurde. Das erzählen sie vielleicht später – oder auch nicht. Wir versuchen einfach offen, vorurteilsfrei – menschlich empathisch zu sein.

„Die…Menschen bekommen in der Werkstattkirche und ihrem Netzwerk etwas, was sie lange nicht mehr hatten: Anerkennung, Wertschätzung, Sorge, Essen, Interesse, Zuwendung, Achtung, Hausbesuche, ein Bett im Hospiz, eine Trauerbegleitung, Kleidung oder Hauswäsche oder Dinge die gespendet wurden uvm“

„Hier gibt es keine Schwelle zu überwinden. Du reichst mir die Hand und ich kann entscheiden, ob ich sie nehme“

Ganz wichtig, ich werde nicht vereinnahmt, entscheide selbst, bleibe Herr des Geschehens. Denn nachdem eine Vertrauensgrundlage besteht, kann es weitergehen. Jetzt kann mir etwas zugetraut werden, jetzt kann ich selbst einen kleinen oder größeren Part im Netzwerk übernehmen. Aber ich entscheide, zu was und wann ich mich traue.

„Ich komme gerne her, werde geachtet und geschätzt, es stabilisiert mich, da ich allein lebe, bin ich froh über Kontakt. So kann ich auch den anderen etwas geben.“

Vertrauen wächst – dann wird mir etwas zugetraut – und dann entscheide ich, ob ich mich auch traue, ob ich mir das zutraue.

Und so – schreibt die Frau mit der so ausdrucksstarken Sprache, die als erste zitiert wurde (s.o.) – „…sind wir… im Norstadtnetz der Werkstattkirche zu Mitmachbewohnern geworden“.

Was für eine wunderbare Wortschöpfung, die so einfach und verständlich beschreibt, worum es geht: Ja, Mitmachbewohnerinnen und -bewohner – das ist Wunsch und Ziel unserer Arbeit. Etwas allgemeiner sprechen wir seitdem von „Mitmach-Menschen“.

„Die Werkstattkirche holt Menschen aus der Einsamkeit. Hier wird etwas getan ohne Gegenleistung zu erwarten.
Hier hat keiner Angst. Im Nordstadt-Netz der Werkstattkirche bin ich sozialer geworden. Wo man mich braucht, fasse ich mit an.“

Vor einiger Zeit haben wir den mühsamen Versuch unternommen, einem über 65 Jahre alten Mann in einem Gerichtsverfahren zu seinem Recht zu verhelfen. Wir fanden einen Anwalt, der ihn kostenlos vertrat. Das war besonders schwierig, weil der Mann Analphabet und auch in seinen geistigen Fähigkeiten sehr eingeschränkt ist. Wir scheiterten, weil der Mann nicht in der Lage war, vor Gericht darzustellen, wie er ausgenutzt und betrogen worden war.

Diese Erfahrung war der Anstoß für unser gerade anlaufendes Projekt „Mobile Kinderbücherei“. Mit einem Bollerwagen voll guter Kinderbücher fahren wir in den Stadtteil und verteilen die Bücher an Kinder in prekären Lebensverhältnissen. Vielleicht gelingt es uns, die Freude von Kindern an Büchern zu wecken. In den meisten ihrer Wohnungen gibt es überhaupt kein Buch. Lesen ist für die weitere kognitive und geistige Entwicklung die allerwichtigste Basis. Die Kinder sollen die Bücher behalten und auch weitergeben können.

Lachen, Spaß haben und auch verrückte Ideen spinnen, sind zwar keine essentiellen Bestandteile von Demokratie. Für die Werkstattkirche spielen sie aber immer eine große Rolle. In den meisten anderen Kirchen wird ja immer noch viel zu wenig gelacht. In der Werkstattkirche umso mehr. So wird Gemeinschaft auch emotional erlebt und gelebt und manche Anekdote ist schon in die Annalen der Werkstattkirche eingegangen.

Bild einiger der Mitmachmenschen am Tisch im Hof der Werkstattkirche
Besser gemeinsam am runden Tisch als alleine auf einem großen Stuhl!