Fast hundert Besucher füllten die Werkstattkirche bis auf den letzten Platz bei der Premiere des ersten Nordstadt-Theaters „Leben und Streben in der Nordstadt“. Die Oberbürgermeisterin und Schirmherrin des Theater-Projektes gab in Ihrem Grußwort zu Beginn ihrer Freude Ausdruck, dass es der Werkstattkirche gelungen ist, ein so ehrgeiziges und anspruchsvolles Projekt in der Nordstadt umzusetzen.
Die Entwicklung des Stückes und die Regie lagen bei Achim Weimer, aktiv in der „Kleinen Bühne Gießen“ und Leiter des Tinko-Unternehmenstheaters. Aus Erzählungen, Erfahrungen und Anmerkungen von verschiedenen Menschen im Netzwerk der Werkstattkirche entstand ein humorvolles und zugleich nachdenkliches Theaterstück.
Die Nordstadtbewohner, gefangen in ihren Alltagssorgen und –problemen, wie Mülltrennung, Streitereien mit Nachbarn u. a. wurden überzeigend dargestellt von Renate Binder, Brigitte Geist, Marianne Heyne, Gerd Oeler und Raffaelle Polizza. Aber nicht nur um solche individuellen Alltagssituationen ging es in dem Stück. Immer wieder mahnte die Mutter Erde ihre Menschenkinder zum sorgsamen Umgang mit der Natur. Gudrun Schöpe, der Sonnenblumenfrau aus der Nordstadt, war diese Rolle wie auf den Leib geschrieben. Tritt sie doch in ihrem praktischen Leben überall für die Bewahrung der Natur mit allen ihren Kreaturen ein. Folgerichtig umkreiste ihr kleiner Hund mit dem passenden Namen „Luna“ (übersetzt: Mond) sie auch auf der Bühne, wie er sie auch sonst überall hin begleitet. Inmitten von Müll muss die Mutter Erde mit ansehen, wie die Menschen auf ihren eigenen Untergang zusteuern und in ihrer Einsamkeit und Ich-Bezogenheit einander nicht wirklich wahrnehmen und so ihrem eigenen Glück selbst im Wege stehen.
Eine von ihnen, Hannelore Kleinmüller, stellt sehr hartnäckig die Fragen nach Schuld und Verantwortlichkeit für ihr eher ungeliebtes Leben. Sie wird von Silvia Weingarten sehr ausdrucksstark und temperamentvoll dargestellt. Im „Büro des Lebens“, einer zwischen Himmel und Erde angesiedelten „Klärungs- und Beratungsstelle“, insistiert sie darauf, wenigstens nachträglich andere Eltern zugesprochen zu bekommen. Den „Lebensberater“, einen einerseits recht lethargischen und etwas vertrottelten, aber anderseits messerscharf analysierend und geschickt konternden, ungewöhnlichen „Beamten“ spielt Markus Hugo Burgert anschaulich und souverän. Er kann den Wünschen der „Klientin“ nach neuen Eltern nicht entsprechen und sie auch nicht davon überzeugen, ihr Leben anzunehmen und etwas daraus zu machen.
Das gelingt erst, als ein der mit seiner „Tante-Käthe-Ballonmütze“ unnachahmliche Raffaelle Polizza ihr sein eigenes Leben zum Tausch anbietet, um ihr „einen Gefallen zu tun“. Gemeinsam landen sie dann in der Werkstattkirche, wo man anders miteinander umgeht: Dort kümmert man sich umeinander, kocht und isst gemeinsam das, was andere nicht mehr kaufen wollen, repariert Geräte und Gegenstände, die nicht weggeworfen werden müssen, hilft einander und ist für andere da.
„Das Stück hat durch viele Veränderungen und eigene Interpretationen der Darsteller einen sehr intensiven und dynamischen Entwicklungsprozess durchgemacht“, berichten Bärbel Weigand und Christoph Geist von der Werkstattkirche. „Die Darsteller haben sich so das Stück in ihrer Rolle mehr und mehr angeeignet und sich dabei zu einem großartigen Team entwickelt. Wie die auf der Bühne Spielenden war auch das Publikum eine sonst kaum zu erlebende bunte Mischung aus unterschiedlichsten Schichten und Milieus.“
Der Beamte im Büro des Lebens (Hugo Burgert) und Hannelore Kleinmüller (Silvia Weingarten) Renate Binder als die Nordstädterin, die nur innerlich groß geworden ist
Stimmen zur Aufführung:
Spannend, vom Publikum bis zu den Schauspielern, es gab unheimlich viel zu sehen. Interessant, die „Mitmach-Bewohner“ im Menschenhaus. Ohne jegliche vornehme Zurückhaltung beteiligt man sich, ruft nach einem Mikro, lässt Kommentare fröhlich ab, kommuniziert, wie es in einem solchen Raum sein soll. Authentisch. Ohne falsche Ehrfurcht… Es sind schon witzige Figuren, die zu sehen waren, besonders gefallen hat mir der Typ mit der hellbraunen Tante Käthe-Ballon-Mütze. Solche Typen kannst du gar nicht spielen. Phänomenal. Neben der eher professionell wirkenden textsicheren und improvisationsgeübten Schauspielerin dann auch teilweise etwas unbeholfen und gehemmt wirkende Figuren, die aber ihre Fangemeinde mitgebracht hatten, die sich zu Recht haben stolz feiern lassen können. Ein schönes Projekt! Ästhetisch und inhaltlich war ich jetzt nicht absolut überzeugt. Aber ich denke, es geht in erster Linie darum, etwas ins Laufen zu bringen, Menschen zusammenzuführen, die so nicht unbedingt zusammen kommen. Das ist hervorragend gelungen. Deine kurze Bemerkung „keine ganz einfache Geburt“ deutet an, dass auch Profis an ihre Grenzen kommen können. Theaterarbeit, das „Spielen“ mit Erwachsenen ist ja nicht etwas, das jeder aus sich selbst heraus einfach so macht. es hat viel damit zu tun, was man normalerweise nicht macht: Sich selbst zu öffnen, vor Publikum sich gar zu „entblößen“, Rollen zu verkörpern, die nicht nur aus Sprechblasen bestehen, … Theaterarbeit als Selbsterfahrungsraum, als gruppendynamisches Experimentarium, das hört sich immer so einfach an.
Meine ehrliche Meinung? Nein, ich bin wirklich überzeugt, dass dieser Premieren-Abend genau das war, was ein Theaterereignis sein soll: Viele Menschen kommen zusammen, um die Arbeit derjenigen zu würdigen, die viel Herzblut reingesteckt haben, und feiern anschließend gemeinsam anständig dieses Ereignis. Das habt ihr gut hingekriegt!
Michael Meyer, Lehrer an der Richarda-Huch-Schule mit besonderem Auftrag für Theaterarbeit
Herzlichen Glückwunsch!
Mich hat das Stück ausgesprochen begeistert. Eure Fotos auf der Facebook-Seite und auf der Webseite sprechen ja schon für sich, was die Ausdrucksstärke angeht. Ich hatte den Eindruck, dass da Menschen eine Menge von ihrer eigenen Alltagserfahrung in ihr Spiel mit hineinnehmen und im Spiel auch Wege suchen und finden, wie man bestimmte alltägliche Selbst- und Fremd-Niedermach-Strategien aushebeln und überwinden kann.
Wie oft habe ich als Nordstadtpfarrer so ähnliche Klagelieder in Wohnbauwohnungen über nicht erledigte Kehrwochen und Ärger mit Nachbarn gehört, wie oft war ich aber auch angerührt gewesen von Menschen, die ohne groß Aufhebens darum zu machen, Nachbarschaftshilfe geübt haben und Konflikte forsch und energisch angegangen sind. Von solchen Erfahrungen muss viel in die Aufführung eingeflossen sein.
Das Stück hatte Tiefgang und Humor, es war tief religiös, ohne dogmatisch fixiert zu sein. Die Szenen über den Tausch des eigenen Lebens mit einem anderen regten besonders zum Nachdenken darüber an, wie man mit dem eigenen Schicksal umgeht und was dazu gehört, dass man es annehmen kann. Besonders gefreut hat es mich, den lieben Hund Luna auf dem Schoß von Mutter Erde zu sehen, den ich vor fünf Jahren als ganz kleinen Welpen in der Wohnung der Darstellerin schon einmal kennengelernt hatte – und das passte ja auch, die Erde wäre ohne ihren treuen Begleiter Luna ja nicht denkbar.
Helmut Schütz, früherer Pfarrer der ev. Paulusgemeinde
Christoph Geist und Souffleuse Christiane Berg Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz bei der Begrüßung
Das Theaterprojekt „Leben und Streben in der Nordstadt“ kommt passenderweise an dem Ort zum Aufführung, an dem Begegnung, Austausch, Wertschätzung, Unterstützung erfahren wird, der Werkstatt-Kirche!
Es ist toll, dass die Laienschauspieler aus der Nordstadt Zugang zum Theaterspielen bekommen. Denn Theaterspielen bedeutet sich auszuprobieren, in andere Rollen zu schlüpfen sich etwas zu trauen und Selbstbewusstsein zu gewinnen. Theaterspielen ist auch kulturelle Bildung. Uns als politisch Verantwortliche der Stadt Gießen ist es wichtig, dass die Nordstaat ein Ort der Bildung ist.
Die Aufführung war sehr beeindruckend. Sie hat Einblicke in das Leben der Menschen in der Nordstadt ermöglicht. Die Laienschauspieler/innen haben eine tolle Leistung erbracht. Dank gebührt Pfarrer Christoph Geist und Frau Bärbel Weigand.
Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz
Von der Nordstadt – für die Nordstadt: Ein gelungenes Projekt und eine kurzweilige Aufführung.
Ganz normale Nordstadtbewohner*innen werden zu Schauspielern und stellen Menschen mit ihren Problemen und Unzufriedenheiten dar, die wohl viele aus dem Publikum kennen. Das jedenfalls wurde deutlich in der Reaktion der Zuschauer*innen. Und über allen thront die Blumenfrau als Mutter Erde und macht deutlich, dass es auch ihr alles andere als gut geht. Aber so endet das Stück nicht.
Die Protagonistin lernt zu verstehen, dass es nichts nützt auf andere zu schielen und sich ein anderes Leben zu wünschen, sondern sich immer auf sich selbst zu besinnen. Bitte nächstes Jahr wieder ein Stück von der Nordstadt für die Nordstadt.
Inge Bietz, Stadtverordnete
Was erwartete ich, als ich am Freitag Abend in die Werkstattkirche zur Aufführung des selbst erarbeiteten Theaterstücks „Leben und Streben in der Nordstadt“ fuhr? Eigentlich eine nette und engagierte Aufführung – aber auch nicht viel mehr.
Es war aber viel mehr. In flotter Inszenierung, guten Dialogen, fantasievollem Bühnenbild und erfreulicher schauspielerischen Leistung wurde ich in Problemfelder der Nordstadt eingeführt. Nicht bierernst – aber auch nicht oberflächlich komisch – wurden kleine und große Nöte dieses Stadtteils angesprochen. Sehr gelungen. Sowohl die Gruppendialoge am Beginn und Ende des Stückes als auch die flotten Dialoge der „Beraterszene“ beim komisch-ernsten Suchen nach einem anderen Leben, haben mich begeistert.
Vielen Dank – dem Regisseur und allen „Schauspielern“ – einschließlich liebem kleinen weißen Hund.
Elisabeth Faber, Faber Management, langjährige Kreisfrauenbeauftragte
Mutter Erde (Gudrun Schöpe) und Luna Regisseur Achim Weimer bedankt sich bei einem Nordstädter, der eine Diät gemacht hat (Raffaele Polizza) Tosender Applaus im vollbesetzen Saal